Das Wiedersehen

von Alexander Amberg

S. starrte in den Spiegel hinter dem Tresen. Langsam wanderte sein Blick zurück zu dem Glas in seiner Hand, in dem goldbraun das Vergessen schimmerte. Er trank es aus und setzte es ab, etwas zu fest, wie es schien, denn die Eiswürfel schlugen klirrend an den Rand. Sie hatten keine Zeit zum Schmelzen gehabt. In den Keeper, der gedankenverloren die Gläser polierte, kam Leben. Er hängte sich sein Handtuch über den Arm und fragte: „Noch einen Whisky?“ Er hatte die Flasche schon in der Hand.

S. nickte. „Und ein Bier dazu.“

Der Keeper maß ihn mit einem abschätzenden Blick, bevor er sagte: „Kommt sofort.“

S. nickte und zündete sich eine Zigarette an. Beim Inhalieren musste er an das Monster denken, das zu Hause auf ihn wartete. Einatmen, ausatmen. Ihre tiefen, seufzenden Atemzüge. Das Geräusch der Pumpe, die die Nährflüssigkeit in ihre Venen pumpte. Und das Schmerzmittel. Wie lange ging das jetzt schon so? Drei Monate? Sechs? Er schüttelte den Kopf. Eigentlich schon Jahre. Seit diese heimtückische Krankheit ... Und wie lange sollte es noch so weitergehen? Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und trank einen großen Schluck.

„Wie lange soll was noch weitergehen?“

„Bitte?“ Erstaunt wandte S. sich um. Hatte er den Gedanken etwa laut ausgesprochen?

Neben ihm lehnte ein vierschrötiger Kerl am Tresen. Seine rechte Hand umklammerte ein Bierglas. „Na, wie lange soll was noch weitergehen?“ Der Vierschrötige sah ihn aus großen Augen an. Genau wie S. schien er nicht mehr ganz nüchtern.

S. winkte dem Keeper, der wieder an seinen Gläsern herumwischte, und sagte: „Zahlen!“ Er drückte ihm einen Geldschein in die Hand, verzichtete auf das Wechselgeld und ging.

Draußen empfing ihn die Kälte der Nacht. Dabei war es erst halb sieben. Er überlegte einen Moment, ob er den Bus nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Noch war die Stunde nicht um, die die Schwestern von der Sozialstation brauchten, um sie zu baden. Er schlug den Kragen hoch und ging durch den Novembernebel nach Hause.

Schon von weitem sah er den Kleinwagen mit der Werbeaufschrift des Sozialdienstes, der vor seiner Tür parkte. Heute waren sie zu dritt, sie hatten noch eine Praktikantin mitgebracht. „Wir haben sie schon für die Nacht fertig gemacht“, sagte eine der Schwestern, Andrea hieß sie wohl, als sie sich verabschiedete. „Sie müssen nur noch den Tropf wechseln.“ Mit einer Handbewegung wies sie auf die Plastikflasche, die sie bereitgestellt hatte. Sie lächelte schüchtern. S. lächelte zurück. Dann war er allein. Allein mit ihr. Dem Monster.

Obwohl sie nach ihm rief, ging er zuerst in die Küche, wo er ein Fertiggericht in die Mikrowelle schob. Er stellte die Zeitschaltuhr auf fünf Minuten ein, holte eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und öffnete sie mit dem Flaschenöffner, den er an seinem Schlüsselbund trug. Er nahm einen tiefen Schluck, bevor er sich umwandte, den Raum verließ und sich langsam der Tür näherte, hinter der sie – es - lauerte. Mittlerweile schrie sie – es – laut seinen Namen.

„Wo warst du wieder, du elender ...“

Er bemühte sich, den Schwall an Schimpfwörtern zu ignorieren, der über ihre Lippen kam. Dennoch zitterten seine Hände, als er die Flasche mit der Nährlösung an den Tropf hängte.

„Warum tust du das, du ...?“ Er achtete nicht auf die Beleidigungen, versuchte sich stattdessen an die Zeit zu erinnern, als sie sich kennen gelernt hatten, damals, vor siebzehn Jahren, als sie ihre Beine noch gebrauchen konnte, bevor diese schreckliche Krankheit sie verändert hatte ... Aber es gelang ihm nicht.

„So, das hätten wir“, sagte er und sah ihr in die Augen, aus denen ihm blanker Hass entgegenblickte.

„Was glotzt du mich so an, du Sch...“ Er überhörte geflissentlich, was sie sagte.

Ihr Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen. „Steh nicht so blöd rum! Bring mich lieber aufs Klo!“

Er hatte den Eindruck, dass sie sich absichtlich schwer machte, während er sich mit ihr abmühte; aber er schluckte die Bemerkung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Vor seinem inneren Auge sah er sie vor sich stehen, wie sie damals vor ihm gestanden hatte, vor siebzehn Jahren, mit einem Lächeln auf den Lippen.

„Hör auf, so dämlich zu grinsen!“ Ihre Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Widerstrebend machte er sich daran, sie wieder ins Bett zu bringen.

„Jetzt kannst du saufen, so viel du willst“, zischte sie. „Das ist es doch, was du willst. Bis morgen früh stört dich niemand mehr.“

Er überlegte, suchte nach einer Erwiderung, aber die passenden Worte wollten ihm nicht einfallen. Also wandte er sich einfach ab, löschte das Licht und ging zurück in die Küche.

Damals war alles anders gewesen. Damals, als Patrick noch lebte. Er setzte sich an den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Erst sein Sohn, dann seine Frau ... Hätte er nur etwas schneller reagiert, als der Lastwagen ... Er hätte den Jungen retten können, wäre er nicht so darauf fixiert gewesen, diesen dummen Motor zu reparieren! Erst als er ihren Schrei hörte, hatte er aufgeblickt, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der 38-Tonner seinen dreijährigen Sohn überrollte. Danach war sie nicht mehr dieselbe. Gut möglich, dass die Krankheit schon vorher da gewesen war. Vielleicht hatte sie im Verborgenen gelauert, eingeschlossen in irgendwelche Körperzellen, die nur darauf warteten, endlich zu mutieren. Von diesem Zeitpunkt an hatte sie seine Frau jedenfalls endgültig in ihren Fängen. Wenig später begannen ihre Probleme ...

Zunächst hatte sie lediglich Schwierigkeiten beim Gehen gehabt, konnte keine weiten Strecken mehr laufen (Gott, was ist eine weite Strecke? Der Weg vom Parkplatz zum Supermarkt?) und musste sich ständig nach einer Bank umsehen, auf die sie sich setzen konnte, um einen Moment auszuruhen. Dann kam der Stock, schließlich der Rollstuhl, und am Ende ...

Das Ende sah so aus, dass sie im Zimmer nebenan lag und ständig nach ihm schrie, wenn sie nicht stumm vor sich hin vegetierte. Wie hielt er das überhaupt aus, ihre ewigen Launen und Beschimpfungen?! Warum ging er nicht einfach und überließ sie ihrem Schicksal?

Er wischte den Gedanken mit einer Handbewegung beiseite, trank sein Glas aus, stand auf und ging an den Kühlschrank, um eine neue Flasche zu holen.

Zweimal am Tag sahen die Schwestern von der Sozialstation nach ihr, während er bei der Arbeit war. Den Schlüssel hatte er sinnigerweise unter der Matte deponiert, damit sie jederzeit Zutritt zur Wohnung hatten. Nicht auszudenken, was wäre, wenn ein Fremder ... Er verwarf diesen Gedanken sofort - hier gab es nichts zu holen, griff nach der Flasche und ging ins Wohnzimmer, wo er den Fernseher einschaltete. Im Zweiten lief einer dieser Italo-Western, die allesamt so aussahen, als wären sie auf einer Müllkippe gedreht worden. Irgendwann schlief er ein.

Als er aufwachte, wusste er zunächst nicht, wo er war. Auf dem Bildschirm sah er nur ein weißes Flimmern, doch über das Rauschen hinweg hörte er sie rufen. Sie rief seinen Namen. Langsam, ganz langsam stand er auf und ging mit unsicheren Schritten hinüber ins Schlafzimmer. Das diffuse Licht, das durch die geöffnete Tür aus dem Flur hereindrang, reichte nicht aus, die Dunkelheit rings um das Krankenbett zu erhellen. Sie sagte etwas, was er nicht verstand. Er beugte sich über sie, um besser hören zu können. Aber über ihre Lippen kamen nur gurgelnde Laute. Er wollte sich abwenden, um das Licht anzuschalten. Doch ihre Finger ertasteten seinen Ärmel und hielten ihn fest.

„Ja, Liebes, was ist?“ Seine Stimme zitterte. Wie lange hatte er sie nicht mehr so genannt?

Sie setzte wieder an, etwas zu sagen, und wieder brachte sie nur ein Gurgeln zustande. Aber ihm war, als höre er darin seinen Namen. Er sah sie an, erst erstaunt, dann voller Entsetzen. Er wollte sich von ihr losmachen, um den Notarzt zu rufen. Doch unverwandt starrte sie ihn an, während sie seinen Namen murmelte und ihre Finger sich um seinen Ärmel krampften. Sie blickte ihm direkt in die Augen, und sie lächelte.

Er lächelte zurück, versuchte es jedenfalls, und seine Finger streichelten ihre Hand, während seine Linke ihren Kopf anhob. Vor ihm lag die Frau, die er vor siebzehn Jahren kennen gelernt hatte. Er sah sie wieder, wie er sie damals gesehen hatte, und der Schmerz brachte ihn fast um den Verstand. Sie lächelte ihn an und seufzte dabei. Voller Verzweiflung bemühte er sich um sie, wollte es ihr bequem machen, bis er begriff, dass sie aufgehört hatte zu atmen. Die ganze Nacht saß er neben ihr, streichelte ihre kalte Hand und merkte nicht, dass er weinte.