Wolf

von Alexander Amberg

Traurig sah Wolf durch die Gitterstäbe. Zwei lange Tage und zwei noch längere Nächte hatte er ausgeharrt und darauf gewartet, dass sein Freund kommen würde, um ihn zu holen. Aber nichts war geschehen. Er hatte noch nie einen Zwinger von innen gesehen, und anfangs war er pausenlos hin- und hergelaufen und hatte sogar am Beton gekratzt, um sich einen Weg in die Freiheit zu graben. Vergeblich. Jetzt saß er nur noch da und wartete, aber ohne Hoffnung und ohne zu fressen. Seit zwei Tagen hatte er sein Futter nicht angerührt. Er wusste nicht, dass sein Freund draußen auf der anderen Straßenseite stand, gegenüber dem städtischen Tierasyl, und genauso verzweifelt wartete wie er auch.

„Sie dürfen ihm keine Spritze geben“, hatte der Polacken-Eddie den Beamten angefleht. Aber der hatte nur den Kopf geschüttelt und gesagt, er könne nichts machen, immerhin habe der Hund ein Kind angefallen.

„Wolf hat noch nie jemanden gebissen“, versuchte der Polacken-Eddie seinen Freund zu verteidigen, „der Bengel hat ihn eine halbe Stunde lang geärgert und immer mehr provoziert. Ich konnte ihn nicht mehr halten, aber er hat den Jungen trotzdem nur ein bisschen gezwickt.“ Doch wer gab schon etwas auf das, was ein Landstreicher sagte? Scherrer hatte ihn nur angesehen und wiederholt, er könne nichts machen.

Nein, er hatte es nicht leicht, dachte Scherrer. Noch fünf Monate bis zur Pensionierung, und immer wieder - oder immer noch - musste er sich mit diesem Kleinkram abgeben. Es war zwei Tage vor Weihnachten, neunzig Prozent der Kollegen hatten Urlaub oder waren ganz plötzlich krank geworden, und die restlichen zehn Prozent waren bei der Weihnachtsfeier des Reviers. Nur einem wie ihm, der zu gewissenhaft war, eine kleine Erkältung zu einer Grippe aufzubauschen, konnte so etwas passieren. „Hund fällt Kind an!“, hatte es in der Alarmierung geheißen, und außer der rothaarigen Müller, die den ganzen Tag ihre Fingernägel lackierte und zwischendurch den Telefondienst versah, war nur noch der junge Weber da, ein Schnösel hoch drei, der erst vor ein paar Wochen zu der Truppe gestoßen war und von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte.

Als er mit Weber am Tatort eintraf, versorgte der Notarzt gerade einen fettleibigen Vierzehnjährigen, dessen korpulente Mutter sich sofort auf die beiden Polizisten stürzte. Nach dem, was sie erzählte, war ihr kleiner Augapfel halbtot und die Bestie, die das angerichtet hatte, musste sofort erschossen werden. Gehorsam zog Weber die Pistole und bewegte sich vorsichtig auf den Schäferhund zu, der zusammengerollt zu Füßen seines Herrn, eines Obdachlosen, lag, die Schnauze auf den Pfoten und den Schwanz vor der Schnauze. Nur die gespitzten Ohren verrieten, dass das Tier nicht schlief. Im Gegensatz zu seinem Besitzer machte es einen durchaus gepflegten Eindruck. Scherrer schätzte den Hund auf nicht älter als ein Jahr. „Fast noch ein Welpe“, dachte er.

Schweiß perlte auf Webers Oberlippe, und seine Hand zitterte leicht. Die Frau keifte in einem fort, sie redete sich immer mehr in Rage, während ihr Augapfel ununterbrochen jammerte. An seinem Arm schimmerte tatsächlich ein Blutfleck. Ein sehr kleiner Blutfleck.

„Der Köter hat meinen Andi einfach angefallen“, lamentierte die Frau.

„Ist es schlimm?“, fragte Scherrer den Notarzt, der schon vor ihm eingetroffen war.

„I wo!“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Der Hund hat gar nicht richtig zugebissen, die Zähne haben die Haut nur geritzt. Ich habe unserem Freund hier“ - damit versetzte er seinem Patienten einen Klaps - „vorsichtshalber eine Tetanusspritze verpasst. Aber mehr ist beim besten Willen nicht nötig.“

Scherrer nickte bedächtig, wandte sich aber sofort um, als er ein gereiztes Knurren hörte, ein gefährliches, tiefes Grollen, das von ganz hinten aus der Kehle des Hundes zu kommen schien. Der auf seiner Decke zusammengekauerte Obdachlose versuchte verzweifelt, das Tier an seinem Halsband zurückzuhalten. Die korpulente Frau schrie ängstlich auf, Andi wurde blass, und der entsetzte Weber wich einen Schritt zurück. Scherrer sah, wie er mit dem Daumen den Sicherungshebel seiner Dienstpistole zurückschob. Der Hund bellte laut los, und sein Besitzer hatte Mühe, ihn daran zu hindern, sich auf Weber zu stürzen. Die korpulente Frau schrie so etwas wie „Bestie“, und der völlig verängstigte Weber brachte seine Waffe in Anschlag. Schaulustige blieben stehen und verfolgten interessiert, was da vor sich ging.

„Die Waffe weg“, sagte Scherrer, äußerlich vollkommen ruhig. Langsam näherte er sich dem aufgebrachten Schäferhund, während Weber die Waffe tatsächlich etwas senkte, aber nicht ins Halfter schob. Vorsichtig streckte Scherrer den Arm nach dem Hund aus, den Handrücken nach oben, damit das Tier daran schnuppern konnte. Misstrauisch verfolgte der Hund jede von Scherrers Bewegungen, knurrte noch einmal missmutig und näherte sich dann der Hand, die Scherrer ihm präsentierte. Die korpulente Frau keifte noch immer etwas von einer Bestie. Das Tier schnüffelte an Scherrers Hand, der Polizist beugte sich zu ihm hinunter, und plötzlich, noch ehe er eine Hand heben konnte, um sich zu wehren, leckte ihm eine lange, nasse Zunge übers Gesicht.

„Er beißt nicht“, sagte der Obdachlose. „Er ist doch fast noch ein Baby.“

„Ich weiß“, knurrte Scherrer, verzweifelt bemüht, den Liebesbeweisen des Schäferhundes zu entgehen. „Wie heißt er denn?“

„Wolf!“, verkündete sein Besitzer stolz.

„Wie einfallsreich!“, dachte Scherrer. Weber herrschte er an: „Stecken Sie endlich Ihre Waffe weg, bevor noch etwas passiert. Das Ding ist gefährlich.“

Weber lief rot an und sagte: „Er wollte mich anfallen.“

„So, wollte er das?“, sagte Scherrer und drehte den Kopf weg, sodass eine rote Zunge nur einen Zentimeter an seiner Nasenspitze vorbeiflutschte. „Wenn Sie das Ding nicht wegstecken, werde ICH Sie anfallen!“

„Sehen Sie doch nur, wie der Köter meinen Andi zugerichtet hat“, keifte die korpulente Frau. „So was darf nicht frei ‘rumlaufen.“

Der Obdachlose streckte beschützend die Hand nach seinem Hund aus, während Wolf Scherrer jetzt doch erwischte und ihm ausgiebig übers Gesicht leckte. Auf Webers Gesicht machte sich ein maliziöses Grinsen breit. „Der Hund ist gefährlich“, verkündete er aus sicherem Abstand. „Das Vieh gehört eingeschläfert! Wir sollten einen Tierarzt rufen!“

Erschrocken sah der Obdachlose zu Scherrer. „Wolf hat nicht ...“

„Wie heißen Sie? Können Sie sich ausweisen?“, herrschte Weber den Mann an. Um seine Angst zu überspielen, lief er zu Hochtouren auf.

„Meine Freunde nennen mich den Polacken-Eddie“, sagte der Obdachlose und kramte nach seinen Ausweispapieren, „aber für Sie bin ich Herr Kowalski, Eduard Kowalski.“

Scherrer sah, dass Weber rot wurde. Er konnte nicht verhindern, dass Weber den Mann mit aufs Revier nahm, und auch dass der Hund ins Tierheim musste, war so gut wie sicher. Ins Tierheim, um dann durch die Spritze, die bösen Hunden vorbehalten war, zu sterben. Bösen Hunden!

„Oder kranken!“ Wehmütig dachte Scherrer an Barry, den er vor einem Jahr einschläfern lassen musste. „Hüft-Dysplasie, keine Chance!“, lautete die Diagnose. Mit Tränen in den Augen hatte Scherrer zugestimmt, um seinem Hund das Leiden zu ersparen. Als sie Wolf im Tierheim ablieferten, hatte der Obdachlose, den seine Freunde den Polacken-Eddie nannten, Tränen in den Augen. Dr. Lenz, der Veterinär, an den man sich in solchen Fällen wandte, war nicht anzutreffen. Erst am 24. würde er wieder im Einsatz sein. „In zwei Tagen,“ dachte Scherrer. „Ausgerechnet am Heiligen Abend!“ Er kannte Lenz seit langem.

Als Scherrer mit dem Tierarzt durch die langen Gänge des Tierheims schritt, erklärte er ihm, worum es ging. An Wolfs Zwinger angelangt, öffnete Scherrer die Tür, während Dr. Lenz dem eifrig wedelnden Hund die Leine umlegte, die Scherrer eine halbe Stunde zuvor in der Zoohandlung erstanden hatte. Niemand schöpfte Verdacht, als der Polizist zusammen mit dem Veterinär das Tierheim verließ. Den meisten tat Wolf ohnehin leid, und sie waren froh, dass Dr. Lenz es in seiner Praxis tun wollte.

Wolf bellte laut auf, als er den Polacken-Eddie bemerkte, und zerrte wie von Sinnen an seiner Leine. Scherrer tat, als sehe er die Tränen in den Augen des Obdachlosen nicht.

„Hier ist Ihr Hund,“ sagte er. „Nehmen Sie ihn und passen Sie in Zukunft besser auf ihn auf, selbst wenn irgendein Rotzlöffel ihn noch so provozieren sollte. Ich weiß nicht, ob ich Ihnen nochmal helfen kann.“ Damit ließ er den verblüfften Polacken-Eddie stehen, der nicht wusste, wie ihm geschah. Nach ein paar Schritten wandte Scherrer sich um, blickte ernst auf den Obdachlosen und seinen Hund und sagte zögernd: „Fröhliche Weihnachten!“