Aberglaube mit System

von Alexander Amberg

Angesichts der Fülle des Materials Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, wäre illusorisch. Aber vielleicht kann man Licht bringen in eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte. Die gängigen Positionen zu der Erscheinung, die wir Hexenwahn nennen, werden hier einander gegenüber gestellt – Hilfe und Anreiz für den Leser, sich seine eigene Meinung zu bilden zu einem traurigen Thema. Zehntausende von Opfern, Männer wie Frauen, aber auch Kinder, haben ein Recht darauf, dass ihre Geschichte erzählt wird. Wir müssen uns die Frage stellen, warum das Schreckliche geschah. Wie war es möglich, dass ein ganzer Kontinent von diesem Wahnsinn befallen wurde?

Sich damit zu beschäftigen heißt nicht, Sensationsgier zu stillen. Im Gegenteil. Der Opfer zu gedenken ist auch der Versuch, für die Zukunft zu lernen und so das Leben auf diesem Planeten etwas menschlicher zu gestalten. Ein hehrer Anspruch, gewiss. Aber zu Beginn des dritten Jahrtausends sollten wir dies zumindest versuchen.

Wer hier genaue Zahlen und Daten erwartet, ist an der falschen Adresse. Die einschlägigen Bücher, die später im Anhang genannt werden, erfüllen das Bedürfnis danach zur Genüge. Hier geht es um etwas anderes, als Verwaltungsverlautbarungen statistisch aufzubereiten, nämlich um die tatsächlichen Zusammenhänge. Wo wir nicht umhin kommen, mit nüchternem Zahlenmaterial zu operieren, werden wir dies selbstverständlich tun. Doch eines sollten wir immer im Blick behalten, das vielleicht am besten in dem Pauluswort ausgedrückt wird: „Das Wort ist das Leben. Der Buchstabe tötet.“

Es geht darum, Verständnis zu wecken und Mitleid für die zahl- und sinnlos Gemordeten. Die Täter kann niemand mehr zur Rechenschaft ziehen. Aber auch heute noch gibt es Prozesse, die nach ähnlichen Mustern ablaufen. Sie zu durchschauen heißt, sie zu verstehen. Und sie zu verstehen, bedeutet die Möglichkeit, ihnen entgegentreten zu können. Denn: „Immer noch werden Hexen verbrannt auf den Scheitern der Ideologie.“ In diesem Sinne sind diese Essays ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit. Nicht mehr – und nicht weniger!

Zunächst müssen wir versuchen, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen, um sie später wieder zusammenzuführen und so eine Gesamtschau zu ermöglichen. Die folgenden Kapitel stellen gängige und weniger gängige Erklärungsmuster für ein Phänomen, das man nur mit Abscheu betrachten kann, einander gegenüber: den Hexenwahn.

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Akribie und Kult

Wer sich auch nur am Rande mit der Hexenforschung beschäftigt, wird bald feststellen, dass diese in zwei Richtungen weist. Obwohl der Ausdruck sicher angebracht wäre, will ich hier doch nicht von Schulen sprechen. Zum einen gibt es eine Richtung, nennen wir sie die historisch-wissenschaftliche, die akribisch Quellen studiert und Fallbeispiele auflistet und analysiert.

Demgegenüber versuchen seit Margret A. Murrays Studie The Witchcult in Western Europe (Oxford, 1921) einige Wissenschaftler immer wieder nachzuweisen, dass der Hexenwahn beileibe kein Wahn, sondern politisches Programm war. Heidnische Riten, so ihre These, der Kult der großen Göttin, hatten das christliche Mittelalter überlebt und blühten im Verborgenen. In einer Zeit religiöser Verunsicherung und Glaubensspaltung holte die Kirche aus zum vernichtenden Schlag gegen eine geistliche, matriarchalisch bestimmte Opposition, die sie für eine ernsthafte Konkurrenz hielt. Mit aller Härte ging sie gegen die Priesterinnen des alten Kultes vor und verbreitete Angst und Schrecken unter der Bevölkerung.

Mit Erfolg. Die Propaganda wirkte so vollkommen, dass altes Wissen verloren ging – teils für immer, und sich in den Köpfen der Menschen die Vorstellung von der bösen Hexe breitmachte.

Gab es einen Kult, der auf steinzeitliche schamanische Riten zu Ehren der großen Göttin und des gehörnten Gottes zurückging? Da Schamanen ihre Künste in festgefügten Stammesverbänden praktizierten, brauchten sie in der Regel keine gesellschaftliche Missachtung oder gar Verfolgung zu fürchten. Im Gegenteil. Die Schamaninnen und Schamanen genossen hohes Ansehen in ihrem Umfeld, waren sie es doch, die man rief, um zu heilen oder Schaden abzuwenden. Die Kräuterfrauen des Mittelalters müssen ähnliche Funktionen ausgeübt haben. Beispiele für lebendigen Schamanismus findet man heute noch in Sibirien.

Dass dem Christentum solche Praktiken suspekt waren, muss man nicht eigens betonen. Und dass die Institution Kirche die Individuen, die den alten Kult am Leben hielten, gnadenlos verfolgte, ebenfalls nicht. Der gehörnte Gott wurde zum Teufel abgestuft und seine Priesterinnen zu Hexen. Per Definition war all das böse, was jahrtausendelang den Menschen genutzt hatte. Der alte Kult war schlecht. Also musste man ihn mit Feuer und Schwert ausrotten.

Dass bei den Verbrechen, die den Hexen zur Last gelegt wurden, die Sexualität eine große Rolle spielte, muss man nicht eigens betonen. Schließlich hatten ihre Verfolger als dem Zölibat Unterworfene gerade auf diesem Gebiet oft ein beträchtliches Manko aufzuweisen. Die Psychologie spricht in solchen Fällen von Projektion. Eigene verdrängte Wünsche, die man sich nicht eingestehen will (oder kann), werden auf das Gegenüber übertragen – oft mit fatalen Folgen. So ist übertriebene Eifersucht in einer Partnerschaft oft nur der verdrängte Wunsch des einen, nämlich des eifersüchtigen Partners, mit möglichst vielen Menschen zu schlafen, der auf den Partner übertragen – projiziert – wird. Streitigkeiten gerade aus diesem Grund sind in Zweierbeziehungen an der Tagesordnung.

Natürlich spielte bei Hexenriten auch Sexualität eine Rolle. Aber hier ist es wie mit allem. Was in der einen Kultur eine sinnvolle Einrichtung sein mag, wird in der anderen zu einem bloßen Abziehbild pervertiert, was dem Missbrauch Tür und Tor öffnet.

Im Grunde pervertierten Europäer so ziemlich alles, was sie aus fremden Kulturen entwendeten. Man denke nur an den nach wie vor steigenden Drogenmissbrauch. Was zum Beispiel in südamerikanischen Kulturen zum Erreichen höherer Bewusstseinssphären diente, wurde im Abendland zum Konsumprodukt, das drängende Süchte befriedigen soll, aber nur zu oft tödliche Wirkung hat.

Dabei sind wir uns meist noch nicht einmal im Klaren darüber, dass Sucht von Suche kommt und der Konsum allein noch keine Befriedigung verschafft, eben weil er nur temporär sein kann. Es ist nun mal ein Unterschied, ob ein Medizinmann Blätter raucht oder kaut oder ob ein europäischer respektive amerikanischer Junkie sich seinen Schuss verpasst.

Wir haben eine lange Tradition darin, fremde Kulturen zu berauben und ihrer Würde zu entblößen. Die Vernichtung der Indianer in Nord- und Südamerika ist hinlänglich bekannt. Auch in Afrika wurden Europäer mit einer Kultur konfrontiert, die sie nicht verstehen wollten. Eine funktionierende Infrastruktur, Städte, die höhere hygienische Standards hatten als europäische, oder eine Sozialstruktur, die niemanden außerhalb der Gesellschaft stellte, führten sehr schnell von Bewunderung zu Hass. Die Folge: das Gerücht, Afrikaner seien Kannibalen. Eine Todsünde, Grund genug für Vernichtung und Sklaverei. Arbeitskräfte für die rasche Ausbeutung Amerikas durch die Kolonialmächte wurden benötigt, und dafür konnte man Sklaven nehmen, die in den Augen der damaligen Europäer mehr Tier als Mensch waren.

Oft genug gehörten Hexen zu den Ärmsten der Armen. Schlossen sie sich zusammen, dann nur zu einem Hexenzirkel oder Coven, dessen Mitgliederzahl in der Regel die 13 nicht übersteigen durfte. Allein schon daran wird deutlich, dass sie sich im Wesentlichen auf das Regionale beschränkten. Im Grunde war das Hexenwesen anarchisch. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum man ihnen so viel Misstrauen entgegenbrachte. Denn so entzogen sie sich jeder Kontrolle. Es gab keine Hierarchien, die man aufbrechen konnte.

Erinnert das nicht an die politischen Ideen der Anarchisten? Dezentral organisierte Einheiten, die sich nur dann zu höheren Organisationsformen zusammenschließen, wenn es um Entscheidungen größerer Tragweite geht.

Manche Politikwissenschaftler, politische Theoretiker, sehen heute wieder die Vorteile einer solchen sozialen Strukturierung. John Dryzek vermutet, viele Probleme der heutigen Zeit könnten nur auf diese Art gelöst werden. Der Einzelne müsse wieder unmittelbar in die Entscheidungen, die ihn betreffen, eingebunden werden. Nur wenn in relativ autarken Einheiten die Lebenswelt so gestaltet wird, dass Probleme wie Umweltverschmutzung, Müllbeseitigung oder soziale Absicherung im überschaubaren Rahmen gelöst und nicht an einen anonymen Staat delegiert werden, biete sich die Chance, das Überleben der Menschheit zu sichern.

Doch zur Zeit der Hexenverfolgungen fand der umgekehrte Prozess statt. Was man heute als Nationalstaat bezeichnet, bildete sich heraus. Kleine Fürstentümer verloren immer mehr an Bedeutung. Große, zentral regierte Einheiten setzten sich durch (vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation). War es die scheinbare Anarchie, vor der sich die Machthaber fürchteten? Die Kirche im besonderen?

Die Kirche verlor die absolute Macht, die sie im Mittelalter gehabt hatte. Souveräne Fürsten beanspruchten einen nicht geringen Anteil der Macht für sich. Die Glaubensspaltung, die zweite Religion, ermöglichte den Herrschenden, die Kirchen gegeneinander auszuspielen, weltliche Macht gegen kirchliche. Ein Glaube, der anarchisch organisiert war, hätte die zweigeteilte Macht in so kleine Einheiten aufgeteilt, dass eigentlich nichts mehr davon übrig geblieben wäre.

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Aberglaube mit System

Der obengenannten wissenschaftlich-kompilierenden Richtung zufolge ist die Hexenverfolgung kein einheitliches Phänomen, sondern sie setzt sich zusammen aus einer Vielzahl einzelner Erscheinungen, die in ihrer Gesamtheit unser Bild der Ereignisse bestimmen. Diese historisch-wissenschaftliche Richtung stellt die Hexenverfolgungen als verabscheuungswürdige Verbrechen dar, für die wiederum viele verschiedene Personen die Verantwortung tragen. Die Tausende zu Tode gemarterter Frauen und Männer sind unschuldige Opfer, die aus niedrigsten Motiven ermordet wurden: aus Habgier, Neid, Rachsucht, religiöser Verblendung, Aberglaube und Irrsinn. Kurt Baschwitz, Hexen und Hexenprozesse, Die Geschichte eines Massenwahns und seiner Bekämpfung (München, 1963) mag für diese Richtung stehen. In einer umfassenden Darstellung demonstriert er seine Kenntnis der Materie und plädiert für eine differenzierte Sichtweise. Nicht die Kirche als solche trage die Schuld an den Gräueln, ist seine These, sondern einzelne ihrer Vertreter, aber auch weltliche Obrigkeiten wie Bürgermeister, Stadtväter oder lokale Feudalherren, die in ihrem Einflussbereich die Pogrome entfachten.

Die Bürger selbst sind in dieser Reihe nicht ausgenommen. Die meisten Anklagen gegen Hexen kamen aus der Bevölkerung selbst, weniger von oben. Die Erklärungen dafür sind nicht nur unzulänglich, sondern oft nichtssagend. Das Schreckliche an den Verfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts, das aber auch ihre Effektivität ausmachte (das Wort „Effektivität“ gebrauche ich ohne jeden Zynismus), ist die hier fassbare Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Aus finsterstem Aberglauben geboren, fielen dem Hexenwahn Zehntausende unschuldiger Menschen zum Opfer, weil die Verfolger mit System vorgingen. Nie zuvor wurde eine neuzeitliche Methode so konsequent und umfassend angewendet. Aber zu welchem Ende? Das Gedankengut war mittelalterlich, die Art und Weise des Vorgehens modern. Diese unheilige Allianz ließ in Europa die Scheiterhaufen lodern.

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