Stephen King, „Das Bild“

von Alexander Amberg

Er ist der Meister. Mit seinem Roman „Das Bild“ bestätigt er nur seinen Ruf als absoluter Star des Horrorgenres. Wer könnte einem Stephen King schon das Wasser reichen?

„Das Bild - Rose Madder“ ist ein weiterer Band aus Kings Schreibwerkstatt. Es geht um die Geschichte einer mißhandelten Frau, Rosie Daniels, die aus der Hölle ihrer Ehe mit einem psychopathischen Cop flieht, vorübergehend Zuflucht in einem Frauenhaus und schließlich eine neue Liebe findet. Ein Roman von Stephen King eben, voll im Trend und sogar mit einem Happy End - fast wenigstens. Denn wie immer bei Stephen King ist die Trennlinie zwischen Alltag und Wahnsinn nur ein schmaler Grat, auf dem seine Figuren jeden Augenblick auszurutschen drohen.

Nun, Stephen King hat sich einem Frauenthema zugewandt, vordergründig jedenfalls. Denn in Wahrheit erzählt er in immer neuen Variationen stets dieselbe alte Geschichte: von der Bestie, die in jedem von uns schlummert.

Einen Großteil seines Erfolgs machen seine psychologisch glaubwürdigen Charakterisierungen aus. Seine Technik der vielfachen Brechung durch ständigen Perspektivwechsel - Erzählerrede, Figurenrede, Innensicht der Figuren, Wiederholen desselben Ereignisses aus der Sicht unterschiedlicher Figuren - lassen dem Leser immer einen Schritt Vorsprung, indem sie ihm indirekt die Charaktere der handelnden Figuren erschließen, ihn jedoch über den Fortgang des Geschehens im Ungewissen lassen.

So baut King einen Spannungsbogen, der von der ersten bis zur letzten Seite reicht - und darüber hinaus. Denn eingefleischte Stephen King-Fans geben sich mit den läppischen - sagen wir: 700 Seiten nicht zufrieden, die so eine Schwarte umfaßt. Sie wollen mehr. Und das bekommen Sie! Ich weiß zwar nicht, mit welchem Thema sich der Meister im Augenblick beschäftigt. Aber zweifellos dürften seine Erzählungen verantwortlich sein für jede Menge schlafloser Nächte und Alpträume unter den Mitgliedern seiner Fangemeinde.

Warum? Nun, ein King scheut sich nicht, Identifikationsangebote noch und nöcher zu bieten. Lokalkolorit? Kein Problem, da haben wir’s. Die Orte, an denen seine Geschichten spielen, sind uns seltsam vertraut. Die kleine verschlafene Stadt, das Provinznest mit dem Tante Emma-Laden, das Einfamilienhaus in der Vorstadt, der McDonald’s gleich um die Ecke - vielleicht auch das Frauenhaus, in das sich Rosie Daniels flüchtet, nachdem sie wieder ihren Mädchennamen McClendon angenommen hat, oder das möblierte Zimmer, in das sie zieht, nachdem sie einen Job gefunden hat. Tatsache ist, daß King die Versatzstücke benutzt, die wir alle kennen. Er erschafft die Welt nicht neu. Im Gegenteil. Er zeichnet sie detailgetreu nach, und alles könnte in Ordnung sein, würde sich nicht irgendwann ein Rädchen dieses Gefüges in die falsche Richtung drehen.

Daß ein Mann, der seine Frau schlägt, ein aggressiver Rohling ist, dürfte klar sein. Daß er nach außen hin trotzdem noch gut dasteht, in den Augen der Welt sozusagen, ist auch nur allzu bekannt. Daß ein solcher Brutalinski die Angetraute als Besitz betrachtet, den er um jeden Preis zurückholen will, ist ein gesellschaftliches Phänomen, das man nur zu oft betrachten könnte, würde man nicht die Augen davor verschließen. Daß ein solcher Gewaltmensch einen Mord begeht, mag zwar nicht die Regel sein, ist aber noch denkbar. Daß er am Tag danach aber Schmerzen im Kiefer verspürt, macht den Leser stutzig und - richtig: Norman Daniels, Polizist, politisch rechtsaußen und Frauenfeind, ist ein Kannibale.

Schlimm genug! Aber wir sind es, die King diese Gestalt abnehmen. Wir bangen mit Rosie McClendon, wenn sich dieser Unhold auf der Treppe nähert. Und wir sind diejenigen, die davon überzeugt sind, daß es mit dem Bild, das Rosie in dem kleinen Antiquitätenladen erstand, eine besondere Bewandtnis haben muß; mit dem Bild, auf dem Grillen zirpen; mit dem Bild, das sich von Tag zu Tag unmerklich verändert. Mit dem Bild, durch das man hindurchgehen kann in eine andere Welt.

Wir wissen, daß dem so ist, bevor Rosie es weiß. Denn King spielt mit Dingen, die wir alle kennen. „Alice im Wunderland“ läßt grüßen, aber auch Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“. Mehr noch: wir wissen nicht nur, daß Rosie durch dieses Bild hindurchgehen kann, wir wollen es sogar. Wir wollen wissen, was hinter der Leinwand ist, und plötzlich entwickelt der Roman seine eigene Logik. Was im richtigen Leben unmöglich ist, wird hier wahrscheinlich.

So wie wir uns in das Gemälde versenken, das Stephen King mit Worten zeichnet, und so seine Welt betreten, die doch unsere ist, schreitet Rosie McClendon durch das Ölgemälde in ihrem Zimmer, um ihrem mythischen Selbstbildnis zu begegnen, Rose Madder, der großen Göttin, dem freundlichen Ungeheuer, Kings Version der Medusa.

Auf einmal nehmen wir dem Autor ab, daß die graue Maus Rosie McClendon eine Schönheit ist. Denn während wir sie bisher nur aus der Sicht des Mannes sahen, der sie ständig schlug und mit einem Tennisschläger anal vergewaltigte, nehmen wir sie jetzt aus der Perspektive des Mannes wahr, der um gut sieben Jahre jünger ist als sie und sich in sie verliebt. Er heißt Bill Steiner und ist derjenige, der ihr das ominöse Bild verkaufte, nach dessen Herkunft wir kein einziges Mal fragen, um den Lesefluß nicht zu unterbrechen.

Natürlich kommt es letztlich zum spannungsgeladenen Showdown. Das Monster Norman Daniels verfolgt seine Ex-Frau und deren Liebhaber in ihr Zimmerchen. Beide flüchten durch das seltsame Bildnis, Daniels hinterher. Rose Madder, Rosies mythisches Gegenstück aus dem Gemälde, tötet den Killer. Ende.

Aber ist das ein gutes Ende? Nein, es ist überhaupt kein Ende. Denn Rosie und Bill kehren zurück in die reale Welt. Sie heiraten und bekommen ein Kind. Sie könnten glücklich leben bis an ihr seliges Ende, wären da nicht die Tobsuchtsanfälle, die Rosie immer häufiger heimsuchen. Nun, Rosie bekommt sie unter Kontrolle. Damit ist das Buch zu Ende! Aber trauen wir dem Frieden?

Stephen King entführt uns in ein Märchen seiner ureigensten Machart. Doch nur dem Inhalt nach. Denn seine Technik ist, wenn auch meisterlich, so doch bekannt. Dasselbe Phänomen im 19. Jahrhundert, nur unter positivem Vorzeichen, nennen wir „bürgerlichen Realismus“.

Stephen King mag kein postmoderner Autor sein. Doch erinnert sein Vorgehen an die Machart von Filmen wie David Lynchs „Wild at heart“ oder „Blue Velvet“, in dem Dennis Hopper einen perversen Sadisten spielt. Die erste Einstellung von „Blue Velvet“ zeigt die Vorstadtidylle einer amerikanischen Kleinstadt. Einfamilienhaus reiht sich an Einfamilienhaus, Vorgarten an Vorgarten. Gutbürgerlich bis ins letzte. Dann wechselt die Einstellung. Ein Teenager findet ein abgeschnittenes menschliches Ohr. Manche Kritiker nennen den Film postmodern. Vielleicht ist er das. Mich erinnert er an Stephen Kings Idyllen, die keine sind.

Stephen Kings unnachahmliche Ironie besteht darin, uns den Spiegel vorzuhalten und in dem Moment, in dem wir glauben, uns wiederzuerkennen, ein gräßliches Zerrbild zu zeigen. Mit Humor hat das wenig zu tun. Ich muß dabei immer an Jack Nicholsons wahrhaft teuflisches Grinsen in „The Shining“ denken. Noch sitzt Nicholson, der einen psychopathischen Schriftsteller mimt, über seiner Schreibmaschine und tippt hundertmal denselben Satz. Dann blickt er auf und grinst sein Grinsen, bevor er zur Axt greift, um seine Familie auszulöschen.

Indem Stephen King uns das Grauen zeigt, macht er uns klar, wie froh wir sein können, morgens in unserem warmen Bett aufzuwachen und noch Herr unserer Sinne zu sein. Er zerstört eine Idylle, um uns eine andere zu zeigen - diejenige unseres Alltags. Seine Ironie ist zutiefst subversiv, doch was er tut, bleibt letztlich systembestätigend. Ein Fremdwort dafür wäre: Eskapismus. Stephen Kings Bücher sind Opium für seine Leser. Manche mögen das trivial nennen ...