von Alexander Amberg

Gedichte sollte man in Marmor meißeln, ein Komma zu setzen, einen Tag dauern. Armeen von Kalligraphen sollten ihre Federn in Blattgold tauchen, um die schönsten Verse zu kopieren. Doch machen wir uns nichts vor! Die Realität sieht anders aus. Für Lyrik hat heutzutage niemand mehr etwas übrig. Wo die Idee zur Ware wird, ist die Wahrheit in Gefahr. Wahrheit? Sicher, denn Kunst und Wahrheit können – entgegen eventuell anderer Meinungen – nicht weit auseinander liegen.

Liegt die Literatur brach? Nicht nur die großen Verlage orientieren sich an ausländischen, meist US-amerikanischen Titeln, die wirtschaftlichen Erfolg garantieren. Das sind vor allem Romane, um nicht zu sagen: Groschenromane. Dabei bleibt die Lyrik zwangsläufig auf der Strecke; und der Geschmack – ich meine den guten Geschmack, über den sich bekanntlich nicht streiten lässt – ist schon lange nicht mehr die Instanz, die über eine Veröffentlichung entscheidet. Nun ja, das Leben ist ein Traum in einem Traum, eine Bühne voller Illusionen, die uns letztendlich in die Realität entlässt.

Gibt es eine Korrelation der Künste? Wenn ja, dann liegt sie in der Ästhetik oder besser: im Schönen. Was aber ist das Schöne? Bei den Griechen ist es mit Sicherheit zu finden, ebenso in der Renaissance. Aus Shakespeares Sonetten und Wordsworths Gedichten leuchtet es heraus. Oscar Wilde war ein Prophet des Schönen. Doch heutzutage scheint es nicht mehr allzu hoch im Kurs zu stehen, das Schöne. Woran liegt das?

Warum führt die Lyrik so ein Schattendasein? Keine leichte Frage. Sucht man nach einer Antwort, stellen sich unweigerlich neue Fragen. Liegt es an der Qualität der Lyrik? Oder an der des Publikums? Sprich: Gibt es den Lyrik-Rezipienten nicht mehr? Oder ist es so, dass, wer heute ein Gedicht schreiben will, auch in der Lage sein sollte, die Quantentheorie zu erklären? Die Lyrik ist mit Sicherheit ein schwieriges Genre. Wer sie produzierte, wurde früher als Künstler bezeichnet – oder belächelt, den platonischen Idealen von Schönheit und Wahrheit verpflichtet. Oh Gott, das soll es heute noch geben?

In vergangenen Zeiten konnte man als Angehöriger einer Adelskaste durchaus nach Wahrheit und Schönheit streben. Wer den ganzen Tag auf der Veranda verbringt, dabei vielleicht hin und wieder einen Schluck geistiger Getränke zu sich nimmt und an seiner Havanna nuckelt, sonst aber keinerlei Ablenkungen ausgesetzt ist, kann sich leicht Gedanken darüber machen, wo er das nächste Komma setzt. Aber ist die Kaste der Dichter nicht ausgestorben? Im schnöden 20. Jahrhundert gab es noch einige Beispiele schöpferischer Kunst. Wie das im 21. Jahrhundert aussieht, wird sich zeigen müssen.

Eine dichterische Bohème, wie sie so gern beschworen wird, gab es eigentlich nie. In den 90er Jahren hörte man das Dröhnen des sozialen Beat oder erschrak vor der Punk-Literatur. Aus dem Bauch heraus zu schreiben, war angesagt, m.E. einer der nichtigsten Gründe, zur Feder zu greifen. Denn ehrlich mag es ja sein, was da aus den Bäuchen kommt; aber, mit Verlaub: Ist es auch die Wahrheit? Oder wieder nur eine Pose? Ist das Lyrik?

Niemanden interessiert, was der Autor meint; denn das lyrische Gebilde führt ein Eigenleben. Es verdichtet Sprache, prüft das Wort auf seine Bedeutungen und hat auch etwas mit Wahrheit zu tun, die es möglicherweise erfassen kann, die ihm vielleicht aber auch entrinnt. Nichtsdestotrotz ist es irgendwo in ihrer Nähe (oder Ferne) angesiedelt und das Gedicht gerade deshalb so wertvoll. Das oberflächliche „Ich meine …“ gehört nicht hierher.

Wo ein Gedicht anklagt, klagt es an. Doch die Anklage auch noch zu formulieren, in banale Worte zu fassen und zu sagen „Ich klage an“, zerstört den Zauber des lyrischen Textes. Oder etwa nicht? Wer nicht darauf verzichten kann, sich derart in den Vordergrund zu drängen, vergibt vieles von den Wirkmöglichkeiten eines Gedichts. Selbstverständlich kann auch ein Gedicht Meinungsäußerung sein, Anklage, etwas gut oder schlecht heißen. Doch sollte ein Gedicht dies mit den Mitteln der Lyrik tun.

Eines ist gewiss: Wer Gedichte schreibt, sollte auch Gedichte lesen. Er sollte wissen, in welchen Traditionen er sich bewegt, wovon er sich abhebt, was er wiederholt oder anders macht. In einer Welt, in der die leisen Töne nicht mehr gehört werden, hat die Lyrik es schwer. Aber es könnte auch anders sein …

Zu schreiben, zu schreiben und nicht zu wissen, was dabei herauskommt … Das scheint das Schicksal derjenigen zu sein, die zur Feder greifen. Sicher, es ist ein Abenteuer, den Gedanken freien Lauf zu lassen und den Weg des Denkens über den Umweg der Schrift bis aufs Papier zu verfolgen. Mal im Ernst: Vieles müsste nicht geschrieben werden. Gebrauchstexte sind heute gefragt, sicher. Mit der Fiktion hat man es heutzutage nicht mehr so und mit der Lyrik schon gar nicht. Und dennoch …

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